Quantifizierung von Europa bis Ostasien / Quantification from Europe to East Asia (2021-2026)
Quantifizierung von Europa bis Ostasien / Quantification from Europe to East Asia (2021-2026)
Das Projekt ist Teil des aus Mitteln der Alexander-von-Humboldt-Professur finanzierten Dachprojektes sin-aps.
Die herausragende Bedeutung von Zahlen und Statistiken zum Verständnis und zur Ordnung der Welt hat eine lange Geschichte, und dies natürlich nicht nur in Europa. Sie zieht sich von der frühen Antike bis heute durch alle Kulturräume. Zahlen wurden in sehr unterschiedlichen Kontexten wirkungsmächtig (Religion, Astrologie, Ökonomie, Wissenschaft, Technik, Verwaltung, usw.), gerade in kulturellen Austauschprozessen verlieren sie ebenso schnell aber auch ihre scheinbare Universalität oder Plausibilität und erlangen neue, unerwartete Bedeutungen. Die Geschichte der Quantifizierung von natürlichen und sozialen Phänomenen und insbesondere die Sammlung und statistische Analyse numerischer Daten war dabei bisher ein Thema der historischen Forschung, das aus verschiedenen Perspektiven für die Physik, die Lebens- und die Sozialwissenschaften, vor allem für die Wirtschaft, sowie für den Bereich der Medizin und der Psychologie untersucht wurde. Aber selten berücksichtigen und analysierten die oft disziplinär isolierten Studien, was außerhalb Westeuropas und Nordamerikas geschah, obwohl der potenzielle Reichtum einer “für die kulturelle Erforschung der Objektivität relevanten Geschichte der Quantifizierung” jenseits der üblichen geographischen Grenzen anerkannt wurde (Porter 1995). Nicht-westliche Gesellschaften, die nicht nur frühe Traditionen der quantitativen Astronomie hatten, die von den praktischen Anforderungen der Astrologie getrieben wurden, sondern auch Formen der politischen Ordnung, die die numerische Messung sozialer und natürlicher Phänomene erforderten, liefern reichhaltige Materialien für die Erforschung der kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der Quantifizierung über den Übergang zur Moderne hinaus. Als im frühen 20. Jahrhundert auch nicht-westliche Staaten in die globale Szene von Wissenschaft und Technologie eintreten wird Quantifizierung zu einer allgegenwärtigen Praxis und einem anerkannten theoretischen Werkzeug in Wissenschaft und öffentlichem Leben, das seither auf nationaler und globaler politischer, wissenschaftlicher und institutioneller Ebene tiefgreifend transformative Wirkungen hat.
Wenn man die eingangs skizzierten kontemporären Phänomene der Objektivierung und Wirkmächtigkeit algorithmisch produzierter numerischer “Tatsachen” verstehen will, ist es auch wichtig, frühere traditionelle Praktiken der Quantifizierung und ihre Beteiligung an Kulturen des Zählens, Rechnens und Messens mit in Betracht zu ziehen. Meine eigene wissenschaftshistorische Forschung hat sich insbesondere an transkulturelle Schauplätze begeben, an denen sich selbstverständlich als universell verstehende Wissenskulturen aufeinanderprallten. China am Ende des 19. Jahrhunderts ist ein solcher Schauplatz, an dem das Selbstverständnis einer Zivilisation, inklusive seiner moralischen Werte und religiösexistenziellen Überzeugungen, im Zuge der europäischen Expansion nachhaltig erschüttert wurde. Dass der Wandel der Statistik, von administrativen Listen rein fiskalischer Bedeutung für die kaiserliche Verwaltung zur umfassenden Sozialstatistik als rationalem Regierungsinstrument das vorhandene Verständnis der Messbarkeit der Welt veränderte und die epistemischen Grenzen möglicher narrativer Plausibilität erweiterte, sind nur zwei der vielfältigen Konsequenzen transregionaler Zirkulationen von statistischen Theorien, Praktiken und Institutionen. Aus historischer Sicht von Interesse ist weiterhin die Frage, wie sich die persuasive Kraft von Zahlen im Übergang zur Moderne, im Prozess der Globalisierung der “numerischen Vernunft” und erneut im Zuge der Digitalisierung in verschiedenen Settings verändert hat. Die besondere gesellschaftliche Relevanz des Projekts kommt u.a. darin zum Tragen, dass es durch seine historische Dimension zum Verständnis der Chancen und Gefahren der “großen Transformation”, d.h. der Ablösung der keynesianischen Ära und der Regierung durch statistische Zahlen, durch die massive Produktion großer Mengen von Daten durch meist nicht-staatliche Institutionen mit globalen wirtschaftlichen Interessen beiträgt.
Der Untersuchung der kulturellen, sozialen und politischen Implikationen von Quantifizierung sollen sich deshalb Studien in unterschiedlichen räumlichen Maßstäben und aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln annähern. Anstelle der West-Ost Dichotomie, wird zudem ein transregionaler Zusammenhang von Europa bis Asien zugrundegelegt, der sich in den Forschungsfeldern neu rekrutierter wissenschaftlicher Mitarbeiter, potentieller Projektmitglieder und Kooperationspartner in und ausserhalb der FAU widerspiegelt. Theoretische Ansätze der französischen Schule der Soziologie der Quantifizierung von Alain Desrosières zur Untersuchung der “Politik der großen Zahlen” würden hier gerade durch den transregionalen Blick auf China und die Sowjetunion auf die Probe gestellt, denn soziale Kontrolle in nicht-demokratischen Regimen beruhte im 20. Jahrhundert auch auf “kleinen Zahlen”, genauer gesagt auf dem von Mao und in der Sowjetunion entwickelten Konzept “typischer Stichproben”. Dieses jeglicher mathematischen Rationalität widersprechende und gegen “bourgeoise Wissenschaft” gerichtete Konzept, bedeutete, dass eine gute typische Umfrage eine Stichprobengrösse von Eins haben.
Team
Prof. Dr. Andrea Bréard
Lehrstuhl für Sinologie mit dem Schwerpunkt Geistes- und Kulturgeschichte Chinas (Alexander von Humboldt-Professur), IKGF Director
andrea.breard@fau.de
Dr. Nicolas Schillinger
Wissenschaftlicher Mitarbeiter / Research Fellow
nicolas.schillinger@fau.de
Jacopo Nocchi
Wissenschaftlicher Mitarbeiter / Research Fellow
jacopo.nocchi@fau.de