Forschungsreise zum 10. Internationalen Theaterfestival Wuzhen 2023

Logo des 10. Internationalen Theaterfestivals Wuzhen 2023

Im Oktober besuchte Stefan Christ das einzigartige Wuzhen Theater Festival 乌镇戏剧节 im Norden der Provinz Zhejiang. Er war so begeistert, dass er fast nicht mehr an den Lehrstuhl zurückgekehrt wäre!

 

 

Nachdem in drei Jahren Pandemie der internationale Kulturaustausch fast vollständig zum Erliegen gekommen war, wollten die Organisatoren des Internationalen Theaterfestivals Wuzhen offenbar ein Ausrufezeichen setzen. Sie luden nicht nur 14 internationale Theatergruppen ein, die damit die Hälfte des Programms bestritten, sondern eröffneten das Festival auch noch mit einer besonders großen und anspruchsvollen Produktion: H – 100 Seconds To Midnight (Thalia Theater Hamburg, Regie: Robert Wilson). Im zehnten Jahr seines Bestehens bestätigte Wuzhen damit seine Ausnahmestellung in der chinesischen Theaterszene. Während der zwei Wochen des Festivals wurden nicht nur insgesamt fünfzehn Stätten bespielt, darunter das „Große Theater“, sondern es fand wie immer auch ein bunter Karneval auf den Straßen der zur Tourismusdestination umfunktionierten alten Wasserstadt statt, außerdem Workshops der teilnehmenden Theatermacher, Fachdialoge und Lesungen. Auch der Nachwuchswettbewerb gehört seit den Anfängen fest zur DNA des Festivals. In diesem Jahr wurden aus fast 600 Bewerbungen 18 Gruppen ausgewählt, die sich mehrfach der Fachjury sowie einem interessierten Publikum präsentierten.

Dank der langjährigen Verbindung zum Thalia Theater und zur Leitung des Festivals durch die Übersetzung und Betreuung zahlreicher Gastspiele konnte unser wissenschaftlicher Mitarbeiter Stefan Christ im Oktober nach Wuzhen fahren und sich dort in Aufführungsbesuchen und Gesprächen mit Theatermachern und -wissenschaftlern ausführlich über die aktuelle Theaterlandschaft Chinas informieren.

Mit der starken Präsenz internationaler Truppen, darunter auch das Burgtheater und das Volkstheater Wien sowie belgische, brasilianische, britische, französische, indische und japanische Produktionen, erreichte das Festival eines seiner selbst gesetzten Ziele, nämlich dem einheimischen Publikum möglichst viele hochwertige Gastspiele aus dem Ausland zu bieten. Der künstlerische Leiter des Festivals, Meng Jinghui, ein Pionier des chinesischen Avantgarde-Theaters seit den 1990er Jahren und selbst mit zwei Stücken im Programm vertreten (Die Wanze und 24 Stunden im Leben einer Frau), wies in einem der Publikumsgespräche darauf hin, wie wichtig die Begegnung der chinesischen ZuschauerInnen mit der Vielfalt des internationalen Theaters sei, und zwar auch und gerade dann, wenn es sich nicht auf Anhieb erschlösse. Grund zur Klage hatte er keinen: Die Nachfrage war überwältigend – immer wieder standen Besucher stundenlang vor den Theatern um die wenigen Resttickets an – und selbst die anspruchsvollsten Aufführungen trafen auf ein konzentriertes und neugieriges Publikum. Höchstens die allgegenwärtigen Handys, die mitten in den Aufführungen in schöner Regelmäßigkeit laut auf den Boden schlugen, irritierten manch ausländischen Gast.

Besonders intensive Reaktionen rief das Stück Endspiel in der Inszenierung von Kay Voges (Volkstheater Wien) hervor, dessen klaustrophobische Grundsituation offenbar viele an Erfahrungen während der Pandemie erinnerte. In einer Dialogrunde zwischen Regisseur, Theaterwissenschaftlern, diesem Autor und dem Publikum kamen aber auch interessante Ansichten zur Wahrnehmung des absurden Theaters in verschiedenen historischen und lokalen Kontexten zur Sprache.

Es gab jedoch nicht nur ausländisches Theater zu sehen. Meng Jinghui betonte im Gespräch auch die zweite Aufgabe des Festivals: einem möglichst jungen und zeitgenössischen Theater in China Räume zu schaffen, in denen es sich entfalten und neues Publikum erschließen kann. In diesem Zusammenhang fielen besonders zwei Dinge ins Auge. Zum einen machte das Tanztheater mit vier Stücken fast ein Drittel der in diesem Jahr gezeigten chinesischen Produktionen aus. Ob dies eher zu einem generellen Trend in Richtung des Körpertheaters gehört oder ob sich hier die restriktiven politischen Rahmenbedingungen bemerkbar machten, muss vorerst eine offene Frage bleiben.

Zum anderen kamen die interessantesten Stücke aus der Volksrepublik größtenteils von jungen, nach 1990 geborenen Frauen. Die bereits mehrfach ausgezeichnete Dramatikerin Hu Xianyi und die Regisseurin He Qi zeigten mit ihrem „Schlaflosen Ensemble“ das sorgfältig inszenierte und überraschend berührende Dokumentartheaterstück Ich und mein privates Xinhua-Wörterbuch. Die junge Künstlerin „Ellbogenblume“ (Zhou Zhongyu) schrieb und inszenierte mit El fondo un campo de nieve ein ebenso abstrakt-philosophisches wie zuweilen schmerzhaft konkretes Stück über jugendliche Traumata, die schwierige Stellung junger Frauen und das generelle Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft im gegenwärtigen China. Als einzige Darstellerin in den 110 Minuten dieses Stücks, das mehrmals in wilde Orgien aus Licht, Ton und Tanz explodierte, beeindruckte Ye Ning mit ihrer zugleich fragilen und ausdrucksstarken Präsenz. Erwähnenswert ist außerdem die Inszenierung der Wahren Geschichte des Ah Q durch den bekannten Regisseur Li Jianjun. In rasantem Rhythmus ging es von Ah Q zum Tagebuch eines Verrückten, von Video- zu Gesangseinlagen und von der Welt der Toten in die Welt der Lebenden. Die Kernfrage, die er dabei dem Publikum durch sein Ensemble “Neue Jugend” stellen ließ, lautete: “Wie wollt ihr leben?”

Die chinesische Theaterszene präsentierte sich in Wuzhen jedenfalls quicklebendig und trotz der schwierigen Jahre in der Vergangenheit und angesichts einer unsicheren Zukunft mit viel Lust auf noch mehr Spiel und weiteren Austausch mit dem Rest der Welt.